Homer — Odyssee - Kapitel 2

                                            Erster Gesang Ratschluß der Götter, daß Odysseus, welchen Poseidon verfolgt, von Kalypsos Insel Ogygia heimkehre. Athene, in Mentes Gestalt, den Telemachos besuchend, rät ihm in Pylos und Sparta nach dem Vater sich zu erkundigen, und die schwelgenden Freier aus dem Hause zu schaffen. Er redet das erste Mal mit Entschlossenheit zur Mutter und zu den Freier. Nacht.           Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,           Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,           Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,           Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet, 5       Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.           Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte,           Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:           Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers           Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der                         Zurückkunft, 10      Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.                 Alle die andern, so viel dem verderbenden Schicksal                     entflohen,           Waren jetzo daheim, dem Krieg' entflohn und dem Meere:           Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte,           Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso, 15       In der gewölbeten Grotte, und wünschte sich ihn zum                       Gemahle.           Selbst da das Jahr nun kam im kreisenden Laufe der Zeiten,           Da ihm die Götter bestimmt, gen Ithaka wiederzukehren;           Hatte der Held noch nicht vollendet die müdende Laufbahn,           Auch bei den Seinigen nicht. Es jammerte seiner die Götter; 20     Nur Poseidon zürnte dem göttergleichen Odysseus           Unablässig, bevor er sein Vaterland wieder erreichte.                 Dieser war jetzo fern zu den Äthiopen gegangen;           Äthiopen, die zwiefach geteilt sind, die äußersten                               Menschen,           Gegen den Untergang der Sonnen, und gegen den Aufgang: 25      Welche die Hekatombe der Stier' und Widder ihm brachten.           Allda saß er, des Mahls sich freuend. Die übrigen Götter           Waren alle in Zeus' des Olympiers Hause versammelt.                 Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter;           Denn er gedachte bei sich des tadellosen Ägisthos, 30     Den Agamemnons Sohn, der berühmte Orestes, getötet;           Dessen gedacht' er jetzo, und sprach zu der Götter                             Versammlung:                 Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter!           Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel; und dennoch           Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr               Elend. 35      So nahm jetzo Ägisthos, dem Schicksal entgegen, die Gattin           Agamemnons zum Weib', und erschlug den kehrenden                       Sieger,           Kundig des schweren Gerichts! Wir hatten ihn lange                           gewarnet,           Da wir ihm Hermes sandten, den wachsamen Argosbesieger,           Weder jenen zu töten, noch um die Gattin zu werben. 40     Denn von Orestes wird einst das Blut Agamemnons                             gerochen,           Wann er, ein Jüngling nun, des Vaters Erbe verlanget.           So weissagte Hermeias; doch folgte dem heilsamen Rate           Nicht Ägisthos, und jetzt hat er alles auf einmal gebüßet.                 Drauf antwortete Zeus' blauäugige Tochter Athene: 45     Unser Vater Kronion, der herrschenden Könige Herrscher,           Seiner verschuldeten Strafe ist jener Verräter gefallen.           Möchte doch jeder so fallen, wer solche Taten beginnet!           Aber mich kränkt in der Seele des weisen Helden Odysseus           Elend, welcher so lang', entfernt von den Seinen, sich                         abhärmt, 50     Auf der umflossenen Insel, der Mitte des wogenden Meeres.           Eine Göttin bewohnt das waldumschattete Eiland,           Atlas' Tochter, des Allerforschenden, welcher des Meeres           Dunkle Tiefen kennt, und selbst die ragenden Säulen           Aufhebt, welche die Erde vom hohen Himmel sondern. 55      Dessen Tochter hält den ängstlich harrenden Dulder,           Immer schmeichelt sie ihm mit sanft liebkosenden Worten,           Daß er des Vaterlandes vergesse. Aber Odysseus           Sehnt sich, auch nur den Rauch von Ithakas heimischen                     Hügeln           Steigen zu sehn, und dann zu sterben! Ist denn bei dir auch 60     Kein Erbarmen für ihn, Olympier? Brachte Odysseus           Nicht bei den Schiffen der Griechen in Trojas weitem Gefilde           Sühnender Opfer genug? Warum denn zürnest du so, Zeus?             Ihr antwortete drauf der Wolkenversammler Kronion:           Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen? 65     O wie könnte doch ich des edlen Odysseus vergessen?           Sein, des weisesten Mannes, und der die reichlichsten Opfer           Uns Unsterblichen brachte, des weiten Himmels                                 Bewohnern?           Poseidaon verfolgt ihn, der Erdumgürter, mit heißer           Unaufhörlicher Rache; weil er den Kyklopen geblendet, 70     Polyphemos, den Riesen, der unter allen Kyklopen,           Stark wie ein Gott, sich erhebt. Ihn gebar die Nymphe                         Thoosa,           Phorkyns Tochter, des Herrschers im wüsten Reiche der                     Wasser,           Welche Poseidon einst in dämmernder Grotte bezwungen.           Darum trachtet den Helden der Erderschüttrer Poseidon, 75     Nicht zu töten, allein von der Heimat irre zu treiben.           Aber wir wollen uns alle zum Rat vereinen, die Heimkehr           Dieses Verfolgten zu fördern; und Poseidaon entsage           Seinem Zorn: denn nichts vermag er doch wider uns alle,           Uns unsterblichen Göttern allein entgegen zu kämpfen! 80         Drauf antwortete Zeus' blauäugichte Tochter Athene:           Unser Vater Kronion, der herrschenden Könige Herrscher,           Ist denn dieses im Rate der seligen Götter beschlossen,           Daß in sein Vaterland heimkehre der weise Odysseus;           Auf! so laßt uns Hermeias, den rüstigen Argosbesieger, 85      Senden hinab zu der Insel Ogygia: daß er der Nymphe           Mit schönwallenden Locken verkünde den heiligen                             Ratschluß,           Von der Wiederkehr des leidengeübten Odysseus.           Aber ich will gern Ithaka gehn, den Sohn des Verfolgten           Mehr zu entflammen, und Mut in des Jünglings Seele zu                     gießen; 90     Daß er zu Rat berufe die hauptumlockten Achaier,           Und den Freiern verbiete, die stets mit üppiger Frechheit           Seine Schafe schlachten, und sein schwerwandelndes                         Hornvieh;           Will ihn dann senden gen Sparta, und zu der sandigen Pylos:           Daß er nach Kundschaft forsche von seines Vaters                             Zurückkunft, 95     Und ein edler Ruf ihn unter den Sterblichen preise.              Also sprach sie, und band sich unter die Füße die schönen           Goldnen ambrosischen Sohlen, womit sie über die Wasser           Und das unendliche Land im Hauche des Windes                                 einherschwebt;           Faßte die mächtige Lanze mit scharfer eherner Spitze, 100    Schwer und groß und stark, womit sie die Scharen der                       Helden           Stürzt, wenn im Zorn sich erhebt die Tochter des                                 schrecklichen Vaters.           Eilend fuhr sie hinab von den Gipfeln des hohen Olympos,           Stand nun in Ithakas Stadt, am Tore des Helden Odysseus,           Vor der Schwelle des Hofs, und hielt die eherne Lanze, 105    Gleich dem Freunde des Hauses, dem Fürsten der Taphier                 Mentes.               Aber die mutigen Freier erblickte sie an des Palastes           Pforte, wo sie ihr Herz mit Steineschieben ergötzten,           Hin auf Häuten der Rinder gestreckt, die sie selber                               geschlachtet.           Herold' eilten umher und fleißige Diener im Hause: 110     Jene mischten für sie den Wein in den Kelchen mit Wasser;           Diese säuberten wieder mit lockern Schwämmen die Tische,           Stellten in Reihen sie hin, und teilten die Menge des                             Fleisches.              Pallas erblickte zuerst Telemachos, ähnlich den Göttern.           Unter den Freiern saß er mit traurigem Herzen; denn immer 115     Schwebte vor seinem Geiste das Bild des trefflichen Vaters:           Ob er nicht endlich käme, die Freier im Hause zerstreute,           Und, mit Ehre gekrönt, sein Eigentum wieder beherrschte.           Dem nachdenkend, saß er bei jenen, erblickte die Göttin,           Und ging schnell nach der Pforte des Hofs, unwillig im                         Herzen, 120    Daß ein Fremder so lang' an der Türe harrte; empfing sie,           Drückt' ihr die rechte Hand, und nahm die eherne Lanze,           Redete freundlich sie an, und sprach die geflügelten Worte:               Freue dich, fremder Mann! Sei uns willkommen; und hast               du           Dich mit Speise gestärkt, dann sage, was du begehrest. 125        Also sprach er, und ging; ihm folgete Pallas Athene.           Als sie jetzt in den Saal des hohen Palastes gekommen;           Trug er die Lanz' in das schöngetäfelte Speerbehältnis,           An die hohe Säule sie lehnend, an welcher noch viele           Andere Lanzen stunden des leidengeübten Odysseus. 130    Pallas führt' er zum Thron, und breitet' ein Polster ihr unter,           Schön und künstlich gewirkt; ein Schemel stützte die Füße,           Neben ihr setzt' er sich selbst auf einen prächtigen Sessel,           Von den Freiern entfernt: daß nicht dem Gaste die Mahlzeit           Durch das wüste Getümmel der Trotzigen würde verleidet; 135    Und er um Kundschaft ihn von seinem Vater befragte.                Eine Dienerin trug in der schönen goldenen Kanne,           Über dem silbernen Becken, das Wasser, beströmte zum                   Waschen           Ihnen die Händ', und stellte vor sie die geglättete Tafel.           Und die ehrbare Schaffnerin kam, und tischte das Brot auf, 140    Und der Gerichte viel aus ihrem gesammelten Vorrat.           Hierauf kam der Zerleger, und bracht' in erhobenen                             Schüsseln           Allerlei Fleisch, und setzte vor sie die goldenen Becher.           Und ein geschäftiger Herold versorgte sie reichlich mit                       Weine.               Jetzo kamen auch die mutigen Freier, und saßen 145    All' in langen Reihen auf prächtigen Thronen und Sesseln.           Herolde gossen ihnen das Wasser über die Hände.           Aber die Mägde setzten gehäufte Körbe mit Brot auf           Jünglinge füllten die Kelche bis oben mit dem Getränke,           Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle. 150    Und nachdem die Begierde des Tranks und der Speise gestillt           war,           Dachten die üppigen Freier auf neue Reize der Seelen,           Auf Gesang und Tanz, des Mahles liebliche Zierden.           Und ein Herold reichte die schöngebildete Harfe           Phemios hin, der an Kunst des Gesangs vor allen berühmt                 war, 155    Phemios, der bei den Freiern gezwungen wurde zu singen.           Prüfend durchrauscht' er die Saiten, und hub den schönen                 Gesang an.              Aber Telemachos neigte das Haupt zu Pallas Athene,           Und sprach leise zu ihr, damit es die andern nicht hörten:             Lieher Gastfreund, wirst du mir auch die Rede verargen? 160    Diese können sich wohl bei Saitenspiel' und Gesange           Freun, da sie ungestraft des Mannes Habe verschwelgen,           Dessen weißes Gebein vielleicht schon an fernem Gestade           Modert im Regen, vielleicht von den Meereswogen gewälzt               wird.           Sähen sie jenen einmal zurück in Ithaka kommen; 165    Alle wünschten gewiß sich lieber noch schnellere Füße,           Als noch größere Last an Gold' und prächtigen Kleidern.           Aber es war sein Verhängnis, so hinzusterben; und keine           Hoffnung erfreuet uns mehr, wenn auch zuweilen ein                         Fremdling           Sagt, er komme zurück. Der Tag ist auf immer verloren! 170    Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit.           Wer, wes Volkes bist du? und wo ist deine Geburtstadt?           Und in welcherlei Schiff kamst du? wie brachten die Schiffer           Dich nach Ithaka her? was rühmen sich jene vor Leute?           Denn unmöglich bist du doch hier zu Fuße gekommen! 175    Dann erzähle mir auch aufrichtig, damit ich es wisse:           Bist du in Ithaka noch ein Neuling, oder ein Gastfreund           Meines Vaters? Denn unser Haus besuchten von jeher           Viele Männer, und er mocht' auch mit Leuten wohl umgehn.               Drauf antwortete Zeus' blauäugichte Tochter Athene: 180    Dieses will ich dir alles, und nach der Wahrheit, erzählen.           Mentes, Anchialos Sohn, des kriegserfahrenen Helden,           Rühm' ich mich, und beherrsche die ruderliebenden Taphos.           Jetzo schifft' ich hier an; denn ich steure mit meinen                           Genossen           Über das dunkle Meer zu unverständlichen Völkern, 185    Mir in Temesa Kupfer für blinkendes Eisen zu tauschen.           Und mein Schiff liegt außer der Stadt am freien Gestade,           In der reithrischen Bucht, all des waldichten Neïon Fuße.           Lange preisen wir, schon von dein Zeiten unserer Väter,           Uns Gastfreunde. Du darfst nur zum alten Helden Laertes 190    Gehn und fragen; der jetzt, wie man sagt, nicht mehr in die               Stadt kommt,           Sondern in Einsamkeit auf dem Lande sein Leben vertrauret,           Bloß von der Alten bedient, die ihm sein Essen und Trinken           Vorsetzt, wann er einmal vom fruchtbaren Rebengefilde,           Wo er den Tag hinschleicht, mit müden Gliedern                                 zurückwankt. 195    Aber ich kam, weil es hieß, dein Vater wäre nun endlich           Heimgekehrt; doch ihm wehren vielleicht die Götter die                     Heimkehr.           Denn noch starb er nicht auf Erden der edle Odysseus;           Sondern er lebt noch wo in einem umflossenen Eiland           Auf dem Meere der Welt; ihn halten grausame Männer, 200   Wilde Barbaren, die dort mit Gewalt zu bleiben ihn zwingen.           Aber ich will dir anitzt weissagen, wie es die Götter           Mir in die Seele gelegt, und wie's wahrscheinlich geschehn               wird;           Denn kein Seher bin ich, noch Flüge zu deuten erleuchtet.           Nicht mehr lange bleibt er von seiner heimischen Insel 205   Ferne, nicht lange mehr, und hielten ihn eiserne Bande;           Sinnen wird er auf Flucht, und reich ist sein Geist an                           Erfindung.           Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit.           Bist du mit dieser Gestalt ein leiblicher Sohn von Odysseus?           Wundergleich bist du ihm, an Haupt und Glanze der Augen! 210    Denn oft haben wir so uns zu einander gesellet,           Eh' er gen Troja fuhr mit den übrigen Helden Achaias.           Seitdem hab' ich Odysseus, und jener mich nicht gesehen.              Und der verständige Jüngling Telemachos sagte dagegen:           Dieses will ich dir, Freund, und nach der Wahrheit, erzählen. 215    Meine Mutter die sagt es, er sei mein Vater; ich selber           Weiß es nicht: denn von selbst weiß niemand, wer ihn                       gezeuget.           Wär ich doch lieber der Sohn von einem glücklichen Manne,           Den bei seiner Habe das ruhige Alter beschliche!           Aber der Unglückseligste aller sterblichen Menschen 220   Ist, wie man sagt, mein Vater; weil du mich darum befragest.


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