Johann Wolfgang von Goethe — Iphigenie auf Tauris Fünfter Auszug Sechster Auftritt

Iphigenie. Thoas. Orest. Iphigenie: Befreit von Sorge mich, eh ihr zu sprechen Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist, Wenn du, o König, nicht der Billigkeit Gelinde Stimme hörest; du, mein Bruder, Der raschen Jugend nicht gebieten willst. Thoas: Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn Und dieser Bruder bist? Orest: Hier ist das Schwert, Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug. Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück Des großen Königes mir zu verleihn Und einen schönern Tod mir zu gewähren. Wähl einen aus den Edeln deines Heers Und stelle mir den Besten gegenüber! So weit die Erde Heldensöhne nährt, Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert. Thoas: Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie Dem Fremden hier gestattet. Orest: So beginne Die neue Sitte denn von dir und mir! Nachahmend heiliget ein ganzes Volk Die edle Tat der Herrscher zum Gesetz. Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit, Laß mich, den Fremden, für die Fremden kämpfen! Fall ich, so ist ihr Urteil mit dem meinen Gesprochen; aber gönnet mir das Glück Zu überwinden, so betrete nie Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und Getröstet scheide jeglicher hinweg! Thoas: Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein. Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer, Die mich begleiten; dich ich stehe selbst In meinen Jahren noch dem Feinde, bin Bereit, mit dir der Waffen Los zu wagen. Iphigenie: Mitnichten! Dieses blutigen Beweises Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick. Der rasche Kampf verewigt einen Mann: Er falle gleich, so preiset ihn das Lied. Allein die Tränen, die unendlichen, Der überbliebnen, der verlaßnen Frau Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt Von tausend durchgeweinten Tag' und Nächten, Wo eine stille Seele den verlornen, Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich Zurückzurufen bangt und sich verzehrt. Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt, Daß der Betrug nicht eines Räubers mich Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft Verrate. Fleißig hab ich sie befragt, Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz. Sieh hier an seiner rechten Hand das Mal Wie von drei Sternen, das am Tage schon, Da er geboren ward, sich zeigte, das Auf schwere Tat, mit dieser Faust zu üben, Der Priester deutete. Dann überzeugt Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier Die Augenbraune spaltet. Als ein Kind Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen. Er schlug auf einen Dreifuß auf – Er ist's – Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters, Soll ich das innre Jauchzen meines Herzens Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen? Thoas: Und hübe deine Rede jeden Zweifel Und bändigt ich den Zorn in meiner Brust. So würden doch die Waffen zwischen uns Entscheiden müssen; Frieden seh ich nicht. Sie sind gekommen, du bekennest selbst, Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben. Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an? Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge Den fernen Schätzen der Barbaren zu, Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern; Doch führte sie Gewalt und List nicht immer Mit den erlangten Gütern glücklich heim. Orest: Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien! Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott Wie einen Schleier um das Haupt uns legte, Da er den Weg hierher uns wandern hieß. Um Rat und um Befreiung bat ich ihn Von dem Geleit der Furien; er sprach: »Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer Im Heiligtume wider Willen bleibt, Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.« Wir legten's von Apollens Schwester aus, Und er gedachte dich! Die strengen Bande Sind nun gelöst; du bist den Deinen wieder, Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt, War ich geheilt; in deinen Armen faßte Das Übel mich mit allen seinen Klauen Zum letztenmal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu Genieß ich nun durch dich das weite Licht Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir Der Göttin Rat. Gleich einem heil'gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist, Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses; Bewahrte dich in einer heil'gen Stille Zum Segen deines Bruders und der Deinen. Da alle Rettung auf der weiten Erde Verloren schien, gibst du uns alles wieder. Laß deine Seele sich zum Frieden wenden, O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe Des väterlichen Hauses nun vollbringe, Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das Haupt die alte Krone drücke! Vergilt den Segen, den sie dir gebracht, Und laß des nähern Rechtes mich genießen! Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm, Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele Beschämt, und reines, kindliches Vertrauen Zu einem edeln Manne wird belohnt. Iphigenie: Denk an dein Wort, und laß durch diese Rede Aus einem graden, treuen Munde dich Bewegen! Sieh uns an! Du hast nicht oft Zu solcher edeln Tat Gelegenheit. Versagen kannst du's nicht; gewähr es bald! Thoas: So geht! Iphigenie: Nicht so, mein König! Ohne Segen, In Widerwillen scheid ich nicht von dir. Verbann uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer, Wie mir mein Vater war, so bist du's mir, Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele. Bringt der Geringste deines Volkes je Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück, Den ich an euch gewohnt zu hören bin, Und seh ich an dem Ärmsten eure Tracht: Empfangen will ich ihn wie einen Gott, Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten, Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen. O geben dir die Götter deiner Taten Und deiner Milde wohlverdienten Lohn! Leb wohl! O wende dich zu uns und gib Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück! Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an, Und Tränen fließen lindernder vom Auge Des Scheidenden. Leb wohl! und reiche mir Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte. Thoas: Lebt wohl!


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